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Gründerportrait #81: IN HARMONY – eine Auszeit für den Tinnitus

Wie kommen Informatiker dazu mit einem Medizinprodukt ein Startup zu gründen? Über mehrere Jahre arbeiteten Martin Spindler und Matthias Lippmann in einer interdisziplinäre Forschergruppe an einer Software zur Analyse und Therapie von Tinnitus. Am Ende steht der Prototyp, vielversprechende Ergebnisse … und der Unternehmenspartner hat kein Interesse an der Verwertung. Martin und Matthias beschließen das Produkt selbst auf den Markt zu bringen. Das fehlende BWL-Knowhow finden die beiden in Steven Mack. Ihn lernen sie im Businessplan-Seminar kennen, dass wir mit der Professur für Entrepreneurship und Innovation an der TU Dresden anbieten. Die Chemie stimmt und direkt nach seinem Master-Abschluss steigt Steven bei IN HARMONY ein. Über ihre Erfahrungen und Pläne berichten uns die Startup-Gründer nun im Gründerportrait.

Gründer In Harmony
Das Gründerteam von In Harmony (v.l.): Matthias Lippmann, Martin Spindler und Steven Mack (Foto: IN HARMONY)

Worum geht es bei eurer Geschäftsidee?

IN HARMONY ist eine Software-Lösung für Tinnitus-Betroffene. Unsere Software bettet die Tinnitus-Frequenz harmonisch in Musik ein und ermöglicht so eine sofortige und anhaltende Linderung des Tinnitus-Schmerzes. Nutzer unser App sind Betroffene, die unter einem chronischen, tonalen Tinnitus leiden. Von chronischem Tinnitus ist die Rede, sobald Belastungssymptome über einen Zeitraum von mehr als drei Monaten wahrgenommen werden. EU-weit gibt es rund 10 Millionen Betroffene. Rund die Hälfte fühlt sich so stark belastet, dass sie nicht in der Lage sind, ihren Tinnitus im Alltag zu kompensieren.

IN HARMONY können die Betroffenen jederzeit selbständig anwenden.  Wir wollen daher die App als Abo über die gängigen App-Stores anbieten. Im Zuge der für 2020 erwarteten Einführung des neuen „Digitale Versorgung Gesetzes“ (DVG) wird eine ärztliche Verschreibung unserer digitalen Gesundheitsanwendung und damit auch die Kostenerstattung durch die gesetzlichen Krankenversicherer möglich, was den Patienten zugutekommt.

 

Wie entstand die Idee und wann habt ihr entschieden, sie auch umzusetzen?

Der visionäre Gedanke, Tinnitus-Töne gezielt musikalisch zu umspielen, stammt von HNO-Arzt Dr. Tymnik, der bereits die akustische Kompensation von Tinnitus untersucht hat. Inspiriert wurde er durch den Komponisten Bedřich Smetana, der seinen Tinnitus in seinem musikalischen Werk „Aus meinem Leben“ eindrucksvoll vertonte. Diese Idee griffen Martin und Matthias im Rahmen weiterer Forschungsarbeiten an der TU Dresden, am Lehrstuhl für Mensch-Computer-Interaktionen erneut auf.

Eine erste Anwenderbeobachtung, um Aussagen hinsichtlich der Wirksamkeit des Verfahrens treffen zu können, zeigte eine deutliche Nachfrage seitens der Patienten. Es fielen Aussagen wie: „Wann gibt es das zu kaufen? Das hätte ich gern als Einschlafhilfe!“ „Mein Tinnitus schwimmt davon.“

Mit Ende der Forschungsarbeiten stellte sich die Frage der Verwertung. Für uns, Martin und Matthias war klar, eine effektive Lösung zur Linderung von Tinnitus-Schmerz zur Verfügung zu haben und diese Betroffenen nicht zur Verfügung zu stellen, kam nicht in Frage. Gemeinsam entwickelten wir die Idee weiter mit dem Ziel ein Unternehmen zu gründen. Was wir im Mai 2019 gemeinsam mir Steven getan haben.

 

Was waren die drei größten Herausforderungen auf dem Weg in die Selbstständigkeit und wie habt ihr sie bewältigt? Gibt es Dinge, die ihr heute anders machen würdet?

Für digitale Gesundheitslösungen braucht man Zähigkeit und einen langen Atem. Das war uns noch nicht klar, als wir das Gründungsprojekt starteten. Vor allem in der Anfangsphase war das „Zurechtfinden“ in einem noch unerschlossenen Markt eine der größten Herausforderungen, inklusive aller mit dem Begriff „Medizinprodukt“ verbundenen Unklarheiten. Hier mussten wir viel Zeit investieren, um einen grundlegenden Überblick hinsichtlich rechtlicher Regulatorien und dem uns unbekannten Gesundheitsmarkt zu bekommen, insbesondere bei einem kleinen Team wie unserem. Die Finanzierung war ebenfalls eine große Herausforderung. Wir mussten die Erfahrung machen, dass Investoren vor Beendigung der klinischen Validierung (bisheriger positiver Ergebnisse) zurückhaltend sind, Risiken einzugehen und sich auf regulierte Märkte einzulassen. Eine Validierung mit einem klinischen Partner hätte also möglichst schon im Rahmen vorangehender Forschungsprojekte stattfinden müssen.

Erholung vom Tinnitus - das bietet die Smartphone-App von In Harmony (Foto: XX)
Erholung vom Tinnitus – das bietet die Smartphone-App von In Harmony (Foto: IN HARMONY)

 

Was macht euch besonders stolz bzw. was waren bisher eure größten Erfolge?

Der größte Erfolg für uns ist, wenn wir Tinnitus-Betroffenen wirklich helfen können. So ermutigten uns Patienten, die bei Anwenderbeobachtungen angaben, dass ihr Tinnitus maßgeblich reduziert oder sogar ganz aus der Wahrnehmung verschwunden sei. Und natürlich auch die konkret geäußerte Nachfrage nach unserem Lösungsansatz als Produkt.

Dark der erfolgreichen Bewilligung unserer Förderanträge zum EXIST‒Gründerstipendium (BMWi) und zum Technologiegründerstipendium Sachsen (ESF) konnten wir unseren Lebensunterhalt bestreiten und uns in Vollzeit dem Gründungsprojekt widmen. Ein für uns bedeutsamer Schritt war natürlich, unser Unternehmen, die Tech & Life Solutions GmbH im Mai 2019 zu gründen.

Wir freuen uns weiterhin, dass unser Businesskonzept bereits von vielen Seiten als vielversprechend bewertet wird. So wurden wir unter anderem nominiert zum Sächsischer Gründerpreis 2019, waren einer der Life-Science-Finalisten beim IQ Innovationspreis Mitteldeutschland 2019, erreichten die Top 10 im Businessplanwettbewerb Medizinwirtschaft 2018 und konnten uns gegenüber 200 Bewerbern für das SpinLab-Acceleratorprogramm in Leipzig behaupten.

Eine unserer Stärken liegt sicher auch in der leidenschaftlichen Beharrlichkeit, mit der wir die Idee, unser Produkt und unsere Geschäftsplanung überhaupt so weit entwickeln konnten – obwohl wir als Quereinsteiger im eHealth-Bereich immer wieder herausgefordert werden.

 

Welche Unterstützung hat euch in der Gründungsphase besonders geholfen?

Dank den Workshops im DeltaHochDrei-Bootcamp, dem Coaching und die Begleitung durch die Gründungsberater von dresden|exists lernte unser Team seit 2017 die essentiellen Grundlagen für eine erfolgreiche Unternehmensgründung, die wir speziell im Accelerator-Programm und im LifeTechLab für die eigene Gründungsvorbereitung noch intensivieren durften. In diesen Kreisen knüpften wir auch wertvolle Netzwerkkontakte bspw. zu erfahrenen Gründern oder Experten aus anderen Gründerteams.

Das SpinLab in Leipzig hat uns ebenfalls stark weitergeholfen, insbesondere bei Fragen im Bereich eHealth, aber auch bei der Intensivierung von Gründungsvorbereitung, Produktentwicklung, Investorenansprache und Startup-Wissen. Hier konnten wir bspw. Mentoren aus Wirtschaft und Gesundheitswesen kennenlernen und vom Co-Working mit anderen Teams profitieren, mit denen wir weiterhin in Austausch stehen.

Auch das futureSAX-Netzwerk und dessen Veranstaltungen haben sich für uns schon mehrfach als wertvoll erwiesen. Speziell Für gesundheitsbezogene Lösungen braucht es die richtigen Ansprechpartner, die wir zum Glück bspw. beim biosaxony e.V. fanden.

 

Welche Faktoren sind aus eurer Sicht für den Erfolg einer Existenzgründung wichtig?

Langen Atem, hohe Signifikanz von Netzwerken, gute und wertschätzende Kommunikation im Team, Registrierung beim BAND (Business Angels Netzwerk Deutschland) – hierbei haben sich für uns eine Vielzahl von (potentiellen) Ansprechpartner/ Investoren ergeben.

 

Wo seht Ihr euer Unternehmen in 5 Jahren?

Das erste Ziel ist aktuell die Beendigung der klinischen Studie zur Validierung der bisherigen Ergebnisse aus der Anwenderbeobachtung. Diese Studie ermöglicht uns eine erfolgreiche Etablierung am deutschen Markt. Bis 2022 wollen wir mit der Markterweiterung in der DACH-Region beginnen, um IN HARMONY schließlich mit gesammelten Erfahrungen in weiteren EU-Ländern und auch auf dem internationalen Markt zu platzieren. In fünf Jahren sind wir hoffentlich, zusammen mit einem starken Team damit erfolgreich. Dabei planen wir, Dresden treu zu bleiben und die noch recht überschaubare Szene zur digitalen Gesundheitsversorgung in Sachen aktiv voranzubringen.

Außerdem liegt es uns am Herzen, weitere Tinnitus-Arten (z.B. multitonalen oder Rausch-Tinnitus) zu kompensieren und für deren Linderung im Alltag zu sorgen. Hier liegt für uns noch Forschungs- und Entwicklungspotenzial.

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